Donnerstag, 10. Mai 2012

Oslo, August 31st

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Was bedeutet der inflationär gebrauchte Begriff "desillusionierte Jugend"? Damit befasst sich der Skandinavier Joachim Trier in seinem eindringlichen und intimen Drama Oslo, August 31st. Dabei gelingt es ihm hervorragend, die Tragödie einer ganzen Generation filmisch festzuhalten.

Anders (Anders Danielsen Lie) kommt aus einer gutsituierten Familie, verbrachte eine glückliche Kindheit, arbeitete als Journalist. Doch 2005 fällt er den Drogen anheim, konsumiert jahrelang Heroin, Kokain und Ecstasy. Nun ist er 34 Jahre alt und steht kurz vor dem Ende einer zehnmonatigen Entziehungskur. Zwei Wochen vor seiner Entlassung aus der Klinik darf er für einen Tag nach Oslo, um bei einem Vorstellungsgespräch zu erscheinen. Aber anstatt sich zu freuen, fühlt Anders nur eine gewaltige Leere in sich; er hat nicht die Kraft, als Mittdreissiger noch einmal bei Null zu beginnen. Dabei helfen ihm auch Freunde und Verwandte nicht weiter: Das Lebensglück seiner einstigen Kumpanen stellt sich als Fassade heraus, Eltern und Schwester distanzieren sich von ihm.

Laut Abspann basiert Oslo, August 31st lose auf Le feu follet, einem kurzen Roman des wegen seiner Rolle im Vichy-Regime des Zweiten Weltkriegs umstrittenen französischen Autors Pierre Drieu La Rochelle. In der 1931 erschienenen Geschichte, welche 32 Jahre später von Louis Malle (Atlantic City, Au revoir, les enfants) verfilmt wurde, folgt der Leser den letzten Tagen eines Alkoholikers – modelliert nach Drieus Freund Jacques Rigot –, bevor dieser sich das Leben nimmt. Trier greift sowohl diese persönliche Tragik als auch die angedeutete Verbindung zur zeitgenössischen Sozialgeschichte auf, transponiert sie jedoch sehr elegant ins Norwegen des 21. Jahrhunderts. Er findet in Anders einen Menschen, der lange am Rande der Gesellschaft gelebt hat und nach seinem zaghaften Wiedereintritt nicht das Glück vorfindet, das ihm versprochen wurde. In grossartigen langen Dialogen – in ihrer Lebensnähe durchaus an Cineasten wie Mike Leigh oder Asghar Farhadi erinnernd – muss er feststellen, dass sich auch seine alten Schulfreunde mehr vom Leben erhofft haben.

Anders (Anders Danielsen Lie) trifft während seines Ausgangs aus der Drogenklinik auf alte Freunde und Liebschaften.
Den Grund dafür enhüllt Trier mit subtiler Charakterzeichnung. Die Generation Y – geboren zwischen dem Ende der Siebziger und dem Anfang der Neunziger –, der alle seine Figuren angehören, ist in einer Welt aufgewachsen, in der das Individuum gefeiert wird und somit nicht bereit ist für die Anonymität der Erwachsenenwelt; entweder man bleibt ein die Clubs Oslos frequentierender 20-Jähriger im Geiste oder man passt sich an und hasst sich dafür. Dass dies nicht formelhaft wirkt, ist nicht zuletzt der Hauptfigur des Films zu verdanken: Anders, von Anders Danielsen Lie famos verkörpert, ist kein künstlicher Symbolcharakter, sondern ein lebensechter, dreidimensionaler Protagonist.

Oslo, August 31st mag vom zum Klischee gewordenen skandinavisch-protestantischen Pessimismus geprägt sein, aber es lohnt sich, die Herausforderung anzunehmen. Überdies hat es Joachim Trier geschafft, seinem vorzüglichen Zweitwerk, passend zur inneren Logik, einen kleinen Lichtblick zu verleihen: Anders hört in einem Café, wie eine junge Frau eine lange Liste von Dingen herunterliest, manche äusserst unrealistisch, die ein Freund vor seinem Tod noch tun will. Das Leben mag hart sein, doch wer noch Träume hat, braucht sich vor nichts zu fürchten.

★★★★

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