Sonntag, 24. Juni 2012

Balkan Melodie

Fernab der politischen Debatte um kriminelle Ausländer aus dem Osten Europas begibt sich Filmemacher Stefan Schwietert auf eine musikalische Reise durch den Balkan und auf die Spuren des Produzenten Marcel Cellier. Zwar ist Balkan Melodie, obgleich weniger trocken als Schwieterts Vorgängerwerk Heimatklänge, etwas ziellos. Dennoch bietet der Film Einblick in eine faszinierende Musiktradition und erinnert an eine Zeit, in welcher der Osten im kollektiven Bewusstsein nicht der Ort war, wo die Verbrecher lauerten, sondern wo das Unbekannte und damit das Abenteuer lockte.

Seit über 50 Jahren reist der Schweizer Marcel Cellier mit seiner Ehefrau Catherine durch Osteuropa auf der Suche nach talentierten Volksmusikern, mit welchen er Alben aufnimmt, die sie, im besten Fall, im Westen in Berühmtheiten verwandeln. So entdeckten die Celliers zur Zeit des Eisernen Vorhangs, als in den ländlichen Kneipen Rumäniens, Bulgariens und Jugoslawiens Lieder gegen Kollektive und Zwangsabgaben zum Besten gegeben wurden, diverse Künstler, welche später den Durchbruch schafften und Cellier zu mehreren goldenen Schallplatten und sogar einem Grammy verhalfen. Die Bemühungen des Paars hatten entscheidenden Anteil daran, dass Musiker wie der rumänische Panflötist Gheorghe Zamfir, der nach seiner Entdeckung mit Komponisten wie Francis Lai und Ennio Morricone kollaborierte und dessen Musik in Filmen wie Le grand blond avec une chaussure noire, The Karate Kid, Once Upon a Time in America, Only Yesterday oder Kill Bill: Vol. 1 zu hören ist, oder der Frauenchor des bulgarischen Staatsfernsehens, besser bekant als "Le Mystère des Voix Bulgares", ein westliches Publikum fanden. Heute ist Marcel Cellier 86 Jahre alt, doch seine Tage, welche sich zwischen der "première cigarette" und dem "dernière bière" abspielen, drehen sich immer noch um die Musik. Er und Catherine archivieren und sortieren weiterhin fleissig und sind überzeugt, dass die osteuropäische Musikszene boomt wie noch nie.

So informativ und interessant Schwieterts Heimatklänge auch war, dem Film über die schweizerische Jodeltradition fehlte eine klare, übergeordnete Vision, der Blick nach vorne. Zwar antizipierte er gewissermassen die momentane Welle dokumentarischer Annäherungen an die "Urschweiz" – sein Erfolg ebnete den Weg für Werke wie Die Kinder vom Napf, Alpsegen oder Arme Seelen –, doch davon abgesehen, fehlte ihm der Aktualitätsbezug und damit eines der essentiellen Elemente des Dokumentarfilms. Der Zeitpunkt, an dem eine Dokumentation erscheint, ist ebenso wichtig wie ihr Inhalt. Insofern verbessert sich Schwietert mit Balkan Melodie selbst. Er greift ein Thema auf, dessen Schauplatz in der Medien- und Politiklandschaft der Schweiz zurzeit heftigst – und zuweilen auf äusserst irrationale Art und Weise – diskutiert wird: Osteuropa, das steht für Asylbewerber, Ausländerkriminalität und, schenkt man der Weltwoche Glauben, stehlende und mordende Roma-Banden. Entsprechend erfrischend ist es, jemandem wie Marcel Cellier zuzuhören, der mit Westschweizer Schalk und Charme von dieser Region und ihren Bewohnern schwärmt. Natürlich schafft dies die realen Probleme nicht aus der Welt, doch dem Zuschauer wird ein anderer Balkan vor Augen geführt als man ihn von den Zeitungsaushängen gewohnt ist.

Auch im hohen Alter noch von der Musik besessen: Marcel und Catherine Cellier.
Dass auch von einem grossen Teil der Öffentlichkeit argwöhnisch betrachtete Teile der Welt eine aussergewöhnliche Kultur haben, ist im Grunde genommen offensichtlich; trotz Menschenrechtsverletzungen entsteht in Kuba grossartige Musik, floriert im Iran seit Jahren das Autorenkino. In Zeiten wie diesen, in denen Xenophobie und Rassismus wieder erstarken, schadet es aber nicht, hie und da an diese Tatsache erinnert zu werden. Die Celliers erzählen, wie fasziniert sie waren, als sie die scheinbare Sicherheit der westlichen Staaten hinter sich liessen und das Gebiet des Ostblocks betraten; mit ihrer Videokamera hielt Catherine Lenin-Statuen und -Porträts fest und filmte die Menschen, mit denen Westler nicht reden durften. Marcels Aufnahmegerät wiederum bannte die Klänge fremdartig klingender Instrumente – Cimbalons, Panflöten, Okarinas – und Stimmen von Leuten, die nicht recht glauben konnten, dass zwei Exoten, welche im Auto – selbstredend einem mit Waadtländer Nummer – die von der Sowjetunion gelenkten Staaten zwischen Wien und Istanbul bereisen, sie international bekannt zu machen vermögen. Diese mit Originalbildern und -tönen ausgestatteten Erzählungen ergänzt Schwietert, indem er in Sachen Archivaufnahmen aus dem Vollen schöpft. Er zeigt Leonid Breshnev auf Staatsbesuch in Bulgarien, propagandistische Fernsehberichterstattung, Johnny Carson, der das Album Le Mystère des Voix Bulgares anpreist, Gheorghe Zamfir, der in einer westlichen Schlagersendung auftritt. Balkan Melodie ist zu gleichen Teilen eine Rückbesinnung auf die romantische Verklärung des unbekannten Balkans sowie eine Geschichte des modernen Osteuropas: von den illegalen Gassenhauern gegen die Kollektive über die staatlich geförderte Volksmusik bis hin zum postsowjetischen Kapitalismus und dem Balkanpop.

Tradition trifft auf Moderne: Volksmusik im industrialisierten Osteuropa.
Was der Film jedoch vermissen lässt, sind ein eindeutig abgestecktes Ziel und ein etwas umfassenderer Blick. Schwietert besucht diverse Protagonisten von Celliers Reisen und lässt sie über ihre Karrieren und über die Musik ihrer jeweiligen Länder sinnieren, darunter Gheorghe Zamfir, der durch markige Worte und ein womöglich etwas übersteigertes Selbstbewusstsein auffällt. Es fällt nicht schwer, in ihm den Mann zu sehen, der sich mit den Celliers zerstritt, weil er der Auffassung war, er würde von arroganten Schweizer Produzenten finanziell über den Tisch gezogen. Würde sich Balkan Melodie nicht nur mit einigen wenigen "Projekten" Marcels auseinandersetzen, wäre die Entscheidung, diese Episode bloss anzuschneiden, durchaus nachvollziehbar; so aber wird diese offenkundig einschneidende Erfahrung zu abrupt eingeführt, zu oberflächlich behandelt und zu schnell wieder fallen gelassen. Überhaupt wirkt Schwieterts Film etwas allzu spartanisch. Als Verneigung vor der osteuropäischen Musik und ihrem Schweizer Propheten Cellier ist der Film viel zu eng gefasst; dass fünf Jahrzehnte musikalischer Reisen auf drei bis vier Künstler reduziert werden, wirkt doch ein wenig mager.

Trotzdem gehört Balkan Melodie zu den besseren Erzeugnissen der hiesigen Dokumentarfilm-Produktion der letzten Jahre. Nicht nur sieht er davon ab, die Rolle der Schweiz besonders zu akzentuieren und unterschwellig rot-weissen Patriotismus einfliessen zu lassen, es gelingt ihm, sein Thema in einen zeitgeschichtlichen Kontext zu stellen, der über die blosse Schönheit der Musik hinausgeht.

★★★

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